Vier Dinge, die man 66° Nord lernen kann

Text & Fotos: Chris Ball

Grönland: In unserer Zeit ist der Klimawandel ein globales Thema. Uralte Landschaften verschwinden, weil Gletscher und Inlandeis schmelzen und die Temperaturen der Ozeane ansteigen. Tiere werden gezwungen neue Lebensräume zu finden und müssen neue Überlebensstrategien entwickeln. Grönland ist mit seinen Eisbergen, den Eisbären und den Inuits von diesem Wandel besonders betroffen.

Aber das ist nur das aktuellste Problem. Bizarre Überbleibsel von Militärstützpunkten verschandeln diese makellose Umwelt. Spuren, die die Geschichte einer anderen Art von Eingriff erzählen. Trotz alle dem ist Grönland immer noch pure Wildnis, mysteriös und faszinierend. Bis heute schätze ich vier Dinge, die ich am 66. Breitengrad Nord gelernt habe…

Nordlichter können von Süden kommen

Das Aurora Borealis ist für mich kein unbekanntes Phänomen – schließlich lebe ich in den Scottish Borders. Aber die wild tanzenden Lichter, die auf Instagram gepostet werden, sind schwer zu fassen. Seltsame grüne und violette Gebilde, die über den nördlichen Himmel ziehen — ja; kräftige, umherwirbelnde rote und orange Formen — nein. Als wir unser kleines Küchenzelt verließen, das wir in angemessener Distanz zu unseren Schlafzelten aufgebaut hatten, schauten wir zum Himmel und sahen, dass sich südlich von uns, zwischen zwei Berggipfeln, etwas zusammenbraute. Als ich fragte, ob wir eine Lichtershow bekommen, war die Antwort ernüchternd: „Sei nicht dumm, das liegt genau im Süden.“

Sobald diese Worte ausgesprochen waren, erschienen riesige grüne Säulen. Zuerst wogten sie von einer auf die andere Seite, dann mischten sich mehr und mehr Farben dazu, bis die Gebilde wie gigantische Klaviertasten über den Himmel spielten.

Das Schauspiel dauerte so lange an, dass wir die Ionen schließlich ihrem Spiel überlassen mussten, um in unsere erleuchteten Zelte zu kletterten und ein bisschen Schlaf zu bekommen. Die ganze Show spielte sich genau im Süden ab.

Eisbrecher aus Fiberglas

Wir flogen nach Kulusuk, einem Flughafen, der ursprünglich zur Versorgung der US Armee gebaut wurde und heute die touristische Anbindung Ostgrönlands sicherstellt. Auf diesem Trip mussten wir uns auf eine neue Art zu reisen einstellen. Wir landeten auf einer Kiespiste, schnallten unsere Ski und Felle an und begleiteten unsere Ausrüstung, die von Snowmobilen zu unserem nächsten Ausgangspunkt gebracht wurde. Von dort aus würde es mit dem Boot weitergehen.

Mit dem Sonnenaufgang wuchs die Spannung. Der Wind hatte Packeis von der offenen See an die Küste geblasen. Unsere Guides, drei einheimische Jäger, waren unsicher, ob wir rausfahren könnten, wollten es aber probieren. Die aus Fiberglas bestehenden Boote sahen für uns nach Ausflugsdampfern aus und hätten eher an die Küste Floridas gepasst als in die Arktis. Aber diese Männer kannten das Meer und das Eis wie keine anderen. Also vertrauten wir ihnen, brachen auf und bahnten uns den Weg durch Tonnen von Packeis.

Der kleine 60bhp Honda-Motor kämpfte, als sich die Jäger fachkundig gegen die Eisberge lehnten und so die größten Brocken zur Seite schoben – als würde sich ein großes Tor aus Eis öffnen. Unsere kleinen Boote kamen frei und wir bewegten uns ein paar Meter weiter durch den dunklen arktischen Ozean.

Das große Tauwetter

Katabatische Winde gehören zu den stärksten Winden der Welt. Uns wurde gesagt, dass wir uns auf diese polaren Böen vorbereiten sollten, mit denen die Temperaturen über Nacht auf unter -40°C sinken können. Wir stellten fleißig eine Packliste zusammen, die den widrigsten Wetterbedingungen der Welt trotzen, aber trotzdem für uns funktionieren würde – und so leicht wie möglich wäre. Was wir nicht eingeplant hatten, war durchgehender Sonnenschein.

Schnell schmelzendes Meereis sprengte unsere Reise. Einer aus dem Team, Ben, versank beinahe mit seinem schweren Schlitten. Unsere Füße waren in einem miserablen Zustand, weil wir keine trockenen Socken mehr hatten und unsere Skischuhe sich mit Schweiß vollgesogen hatten. Dann begannen die Lawinen. Sie gingen von den Gipfeln bis zur Talsohle nieder. Eines Morgens sahen wir, wie die komplette Schneedecke eines 1100 m hohen Berges abrutschte. Langsam, aggressiv und unaufhaltsam rutschten die Schollen ab und kamen nur ein paar hundert Meter vor unserem Camp zum Stehen. Nichts war mehr sicher. Hänge, die eigentlich gut sein sollten, gingen ab. Unsere Pläne schrumpften zusammen. Wir entschieden uns für eine schöne Aussicht statt steiler Skiabfahrten.

Das Rauschen des Schmelzwassers unter dem Eis war nie weit weg, aber es wurde ein Problem genügend Flüssigkeit zu bekommen. Es war ironisch – nach Grönland reisen und von der Hitze besiegt werden. Für uns war das ein kurzfristiges Problem, aber für die Inuit sind die Auswirkungen der Klimaerwärmung eine alltägliche Sorge.

Die einfallsreichsten Menschen

Keine Tiere, kein Vogelgezwitscher oder sich bewegende Objekte am Horizont. Nach einer Weile ziehen Dinge, die normalerweise leicht unter das Radar fallen, die Aufmerksamkeit auf sich. Wir haben zwei kleine Vögel gesehen, die über unseren Köpfen hinwegsausten und ein winziges, langbeiniges Insekt, das über unsere Skispur krabbelte. In einer gefrorenen, leeren Umgebung wird das kleinste Zeichen von Leben zu einer visuellen und auditiven Freude.

Dann passierte zwei Wochen lang absolut nichts. Wie öde muss das Leben für die Einheimischen sein. Ich fragte mich, wie sie sich an solch eine Stille gewöhnen können und was sie empfinden, wenn diese Stille unterbrochen wird.

Am Ende unserer Reise besuchten wir das Museum in Kulusuk. Dort erfuhren wir, wie unglaublich die menschliche Existenz in diesen Breitengraden war. Mit Robbenfett getränktes Moos sorgte für Wärme und Licht und wurde von zwei Familien geteilt – den ganzen Winter lang. Eine Krähenfeder und ein flacher Stein dienten als Kehrschaufel. Die Ohrknochen von Fischen wurden in Schmuckstücke integriert – ein Zeichen von Vorstellungskraft und Fertigkeit. Es lehrte mich, wie wenig man zum Leben braucht und wie einfallsreich man sein kann, wenn es weniger Möglichkeiten gibt. Als das Flugzeug in Richtung Reykjavik abhob, nahm ich diese Emotionen und dieses Verständnis mit in die kosmopolitische Welt. In unwirtlichen, weiten, gefrorenen Landschaften können Menschen siedeln und überleben.

Chris Ball: „Meine Arbeit als Direktor der Enduro World Series brachte mich im März zum Fahrradfahren nach Südamerika. Im April hatte ich das Gefühl den Fahrrädern, Telefonen und der unaufhörlichen Verbindung zur Außenwelt entfliehen zu müssen. Ich versuche immer, zwei Wochen zu finden, in denen ich mich komplett aus allem herausziehen kann. Sich selbst in Umwelten zu zwingen, in denen man sich auf die kleinsten Dinge fokussieren kann, ist eine großartige Sache. Deshalb bin ich aus dem staubigen Argentinien direkt zu einem Trip nach Grönland aufgebrochen. Das Eintauchen in diese Art von Landschaft ermöglicht es mir mich voll auf die Unmittelbarkeit der Umwelt zu konzentrieren. Ich bekam, wonach ich suchte – und ein paar schöne Skiabfahrten.“ Folge Chris Balls Abenteuern auf Instagram.