Überlegungen für verletzte Kletterer

Text: Mina Leslie-Wujastyk

Fotos: Frann Barker

Mit diesem Beitrag will ich einige grundlegende Einblicke und Ratschläge rund um das Verletzungsmanagement für Kletterer geben. Es ist nicht allumfassend und nicht spezifisch. Vieles, was ihr tun oder nicht tun könnt, hängt natürlich stark von eurer persönlichen Verletzung ab und an welcher Stelle des Genesungsprozesses ihr euch derzeit befindet. Nutzt die Informationen einfach als allgemeine Inspiration, als eine Sammlung von Ideen und Vorschlägen, die ihr nachmachen könnt. Wie ihr euren Genesungsprozess gestaltet ist euch ganz persönlich überlassen. Wahrscheinlich ist er eine Kombination von Informationen aus verschiedenen Quellen, kleinsten Tipps und Tricks und individueller, medizinischer Betreuung. Hier versuche ich den Prozess des Umdenkens und Neubewertens aufzuzeigen, den ihr durchlaufen müsst, wenn ihr verletzt seid oder nach einer Verletzung mit dem Klettern beginnen wollt.

Ich bin eine von Arc´teryx gesponserte Kletterin und habe mir im Januar 2019 das Handgelenk gebrochen, und zwar ziemlich schlimm. Der Trümmerbruch meiner Elle und Speiche bedeutete, dass ich für eine längere Zeit nicht klettern könnte. Dreieinhalb Monate nach dem Unfall klettere ich jetzt wieder, aber bin meilenweit davon entfernt, wo ich aufgehört habe. Die vergangenen Monate waren ein interessanter Prozess mit vielen Höhen und Tiefen. Dabei habe ich eine Handvoll Dinge gelernt, die ich für sehr wichtig halte und gerne mit euch teilen möchte, um euch in einer ähnlichen Situation zu unterstützen.

„SEID NETT ZU EUCH SELBST

Eine Verletzung ist starker Tobak. Es ist nicht schön, wenn einem die Leidenschaft über Nacht genommen wird. Es ist okay, sich einzugestehen, dass es einfach „Scheiße“ ist. Natürlich gibt es Menschen, denen es schlechter geht, das heißt aber nicht, dass ihr kein Mitgefühl für euch selbst haben dürft. Es ist in Ordnung, verärgert, frustriert oder niedergeschlagen über eure Verletzung zu sein. Seid nett und freundlich zu euch, wenn ihr euch an die neue Situation und den neuen Zeitplan anpasst, mit denen ihr nun konfrontiert seid.

Dies gilt auch, wenn ihr wieder klettert. Abhängig von eurer Verletzung, werdet ihr wahrscheinlich nicht dort anknüpfen können, wo ihr aufgehört habt. Freundlich und mitfühlend zu sich selbst zu sein, ist zu diesem Zeitpunkt der Verletzungsgeschichte ganz besonders wichtig. Der Körper kann in Sachen Heilung Erstaunliches leisten und ich finde es unglaublich, aus welch schlimmen Situationen wir zurückkommen können. Das heißt aber nicht, dass es einfach ist. Im Gegenteil: Es ist ein sehr schwerer Prozess.“

„GÖNNT EUCH RUHE

Wenn ihr verletzt seid, ist Ruhe wichtig. Euer Körper braucht Zeit und Energie, um zu heilen und sich zu erholen. Dies wird je nach Verletzung sehr unterschiedlich sein, aber denkt daran, dass ihr dem verletzten Körperteil als auch eurem gesamten System nicht zu schnell zu viel abverlangt. Ruhezeit und Trainingsausfall sind wahrscheinlich nicht das, was ihr gerade wollt, aber das steht jetzt auf eurer persönlichen Speisekarte. Ich selbst bin nicht sehr gut darin. Ich war viel im Fitnessstudio und habe alles gemacht, was mit meinem eingegipsten Arm möglich war. Das war zwar nicht ganz falsch, aber wenn ich jetzt zurückschaue, wäre mehr Ruhe nicht so schlecht gewesen.“

„ESST

Wir wechseln vom „Klettermodus“ in den „Verletzungsmodus“ und NICHT in den „Ruhemodus“. Man kommt schnell auf die Idee, dass weniger Klettern/Training aufgrund von Verletzungen bedeutet, dass man weniger essen darf. Obwohl euer Energieverbrauch sinken kann, ist es unerlässlich, dass ihr genug esst, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Euer Körper macht Überstunden, um die Verletzung zu heilen und zu bewältigen. Eine gesunde Ernährung mit vielen Nährstoffen, Proteinen und ausreichend Flüssigkeit sind jetzt besonders wichtig. Essen soll nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern ein kulturelles, kreatives und gesellschaftliches Erlebnis sein. Genießt es!“

„VERGLEICHT EUCH NICHT

Die Heilungskraft des menschlichen Körpers ist unglaublich, aber einige Verletzungen können nicht komplett gelöscht werden. Es kann notwendig sein, euer „neues Normal“ zu erkennen, zu akzeptieren und euch mit ihm zu identifizieren. Versucht euch nicht direkt mit euch selbst vor der Verletzung zu vergleichen. Vieles mag sich verändert haben, aber die vielen Teile, die euch zu einem Ganzen machen, werden zu einem neuen Mosaikkunstwerk zusammengebaut. Wenn ihr es schafft, euch nicht zu vergleichen, wird das auch keine „bessere“ oder „schlechtere“ Version von euch selbst sein. Es ist einfach nur ein neues Bild und ihr könnt euer Handeln und eure Ansichten anpassen, um in eurer persönlichen Weiterentwicklung voranzukommen. Ihr habt vielleicht einige körperliche Einschränkungen, aber da Klettern so vielfältig ist, gibt es andere Möglichkeiten euch zu verbessern. Zum Beispiel werdet ihr durch den Verletzungsprozess definitiv mental stärker werden!“

„IN KLEINEN SCHRITTEN ZUM ZIEL

Es überfordert uns, wieder dort anzuschließen, wo wir vor der Verletzung waren. Abhängig von eurer Verletzung kann das auch unmöglich sein und ihr müsst euch an die neue Situation anpassen. Wie auch immer diese aussieht, macht kleine Schritte. Versucht euch nicht auf das Endziel zu fokussieren, sondern konzentriert euch auf kleinere, erreichbare Rehabilitationsschritte. Dadurch fällt es leichter, sich der aktuellen Aufgabe zu widmen und das zu schätzen, was ihr könnt, anstatt euch zu ärgern, was ihr nicht könnt. Ihr nehmt euren Fortschritt in kleinen Schritten besser wahr, was viel motivierender ist, als sich nur auf das weit entfernte Ziel zu konzentrieren.“

„GEHT RAUS IN DIE NATUR

Als ich mir das Handgelenk gebrochen habe, konnte ich nicht mehr Klettern. Es dauerte eine Weile bis ich bemerkte, dass ich damit auch noch andere Dinge verloren habe. Ich vermisste es, draußen in der Natur zu sein. Irgendwann habe ich erkannt, dass ich frische Luft und Natur für meine Psyche und Ausgeglichenheit brauche. Am Anfang konnte ich nur spazieren gehen, aber das war zu diesem Zeitpunkt perfekt. Als ich mich sicher genug fühlte, fing ich mit dem Laufen an. Vielleicht ist Laufen nicht die richtige Aktivität für euch. Falls ihr vor der Verletzung viel draußen ward, empfehle ich euch, in irgendeiner Art und Weise, Zeit im Freien zu verbringen, denn die Natur hilft heilen: frische Luft, geistiger Freiraum und eine große Portion Vitamin D.“

„PASST EUER TRAINING AN

Durch die Verletzung verlor ich nicht nur die Zeit in der Natur, ich konnte auch mein Training nicht mehr absolvieren. Schließlich löste das Laufen beide Probleme für mich. Anfangs musste ich mich aber mit spazieren gehen und dem Fitnessstudio begnügen. Wie bereits erwähnt, sind Ruhe und Erholung wichtig – gleichzeitig ist ein bisschen Bewegung sehr gut, wenn man dazu in der Lage ist. Der Kreislauf wird trainiert, die Grundfitness bleibt erhalten und man bekommt eine Extradosis wunderbarer Glückshormone wie Serotonin!“

„NEUE DINGE ENTDECKEN

Das ist eure Chance, all die spannenden Dinge zu tun, für die ihr nie Zeit hattet. Ein Silberstreif am Horizont, vorausgesetzt ihr überfordert eure Verletzung nicht. Klettern ist ein sehr fordernder Sport und es ist wunderbar, wenn man etwas mit so viel Leidenschaft tut. Oft werden aber auch viele Dinge hinten angestellt, die genauso erfüllend sein können. Was hat euch schon immer interessiert? Worüber wolltet ihr mehr erfahren? Kochkurse? Töpferei? Malen oder singen? Andere Sportarten (natürlich verletzungsabhängig)?

Wenn ihr seid wie ich, habt ihr wahrscheinlich eine Buchliste, die ihr schon immer lesen wolltet. Ich habe zudem meinen Kurs in Ernährungswissenschaften abgeschlossen und mit Auszeichnung bestanden! Ich bezweifle, dass ich so hart gelernt hätte, wenn mein Handgelenk nicht gebrochen gewesen wäre …““

„BLEIBT IN KONTAKT

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Klettercommunity ist toll und sehr leidenschaftlich. Seid euch bewusst, dass ihr für manche Freundschaften mehr Energie aufwenden müsst, wenn ihr nicht euren normalen Aktivitäten nachgeht. Einige Freunde werdet ihr bei jedem Wetter und regelmäßig sehen, aber bei manchen werdet ihr merken, dass der Kontakt weniger wird, wenn ihr nicht mehr am Fels oder in der Kletterhalle seid. Das ist okay. Gerade in schwierigen Zeiten merken wir, wer unsere engsten Freunde und Unterstützer sind. Freundschaften beruhen auf Gegenseitigkeit und wenn ihr in eurer neuen Situation mal etwas mehr investieren müsst, ist das nicht unbedingt schlecht. Vielleicht müsst ihr nur neue Wege finden, euch zu treffen und damit neue Muster für eure Kletterfreundschaften finden. Sobald ihr einen neuen Rhythmus entwickelt habt, kann die Freundschaft genauso oder besser sein, als sie vorher war.

 

In welcher Situation ihr euch auch immer befindet, Unterstützung und Zuspruch können den Unterschied in der Genesung ausmachen. Habt keine Angst, um Hilfe zu bitten.

Als Verletzte habe ich folgenden Rat für alle denen es ähnlich geht: „Immer weiter lächeln, weiter fühlen, weiter versuchen und freundlich bleiben.“