Text: Nina Caprez
Ich stehe in der Sonne, umgeben von schick gekleideten Leuten. Es ist die Hochzeit eines Freundes aus Kindertagen in der Schweiz. Ich schaue zu, wie die Leute lachen, an ihrem Glas mit gutem Wein nippen, wie die Kinder rundherum spielen. Sie rennen über den grünen Rasen, klettern auf die Bäume und einige spielen im Dreck. Ich schließe meine Augen und sehe Bilder von dem Ort, an dem ich nur ein paar Stunden zuvor gewesen bin. Meine Gedanken springen zwischen der aktuellen Szenerie und dem Libanon hin und her. Ich sehe auch dort Kinder spielen. Ihr Gehabe ist das Gleiche und ich realisiere wie wahrhaftig diese kleinen Menschen sind.

Mein letztes Projekt im Mittleren Osten war anstrengend, aber sehr bereichernd. Während ich zusammen mit der Non-Profit-Organisation ClimbAID syrischen Flüchtlingen und libanesischen, vom Krieg betroffenen Jugendlichen das Klettern beibrachte, realisierte ich einmal mehr wie wichtig Freiheit und Unabhängigkeit sind.
Ich war das zweite Mal als freiwillige Helferin mit ClimbAID im Libanon. Vor einem Jahr hatte Beat Baggenstos, Gründer der Organisation, die Idee eine mobile Boulderwand zu bauen, um syrischen Flüchtlingen und libanesischen Jugendlichen das Klettern beizubringen. Klettern ist eine kraftvolle Aktivität mit vielen Facetten. Es fördert die Werte, die wir teilen und verteidigen: das Gemeinschaftsgefühl, den Willen, sein Bestes zu geben, den Umgang mit Angst und das überwältigende Gefühl von Freiheit, das man erlebt, wenn man sich ganz im Hier und Jetzt verliert.
Als ich im Libanon ankam, kämpften wir mit einer gebrochenen Achse an unserem rollenden Felsen. Ein Problem zu lösen, ist im Mittleren Osten etwas völlig anderes, als in der Schweiz. Daher hing das ganze Projekt ziemlich in der Luft und ich wurde zappelig. Bevor ich ankam war ich in einer hervorragenden Form, da ich die letzten Monate draußen beim Felsklettern verbracht hatte. Wenn ich in diesem Zustand bin, ist mein Verstand nicht sehr offen für die Dinge, die in der echten Welt passieren. Seine Zeit am Felsen zu verbringen und sich nur darauf zu fokussieren, alles für den nächsten Move zu geben, ist nicht besonders relevant für das reale Leben – und es löst keine Probleme.
Sobald der Lastwagen repariert war, fuhren wir zu unterschiedlichen Flüchtlingslagern in der Bekaa-Ebene – und das gute Gefühl, die Erfahrungen an andere weiterzugeben, die ich beim Klettern machen durfte, breitete sich in mir aus.
Ich mag die Vorstellung, dass meine Kletter-Werte überall auf dieser Welt Gültigkeit besitzen. Ich habe unser Team dabei unterstützt, den Jugendlichen beizubringen, engagierter zu klettern, gemeinsam zu klettern und sich gegenseitig zu helfen. Wir haben muslimische Mädchen ermutigt, zu klettern und sich (mehr oder weniger) frei zu bewegen, zu lachen zu weinen, ihre Verletzlichkeiten zu zeigen und auf eine schöne Art damit umzugehen. Klettern ist einfach wunderbar und ich bin glücklich, dass ich die Freiheit besitze, nach draußen zu gehen und diese Aktivität rund um den Globus mit anderen zu teilen.
Während einer der Klettersessions an unserem rollenden Felsen, fragten wir einen Jugendlichen, was es für ihn bedeutet, an diesem bunten Lastwagen zu klettern. Er erzählte uns, dass er vor dem Krieg in den Bergen geklettert ist, aber dass die Berge wegen der vielen Minenfelder nicht mehr zugänglich sind. Und dass er sehr glücklich ist, hier ein bisschen zu klettern, auch wenn es nicht in den Bergen ist – weil er das Klettern wirklich liebt.
Das ist nur eine der vielen Geschichten, die mich berührt haben. In solchen Situationen (nicht weit von den Minenfeldern entfernt) fühle ich mich zunächst wie in einem Film. Wenn ich dann plötzlich realisiere, dass es Realität ist, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Es ist schwer zu erklären, was ich in solchen Momenten fühle und was mir durch den Kopf geht. Ich erlebe sie einfach. Später kommt dann die Zeit, in der ich das Erlebte reflektieren und analysieren muss.
Vielleicht sind es diese Momente, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Ich suche sie nicht, sie passieren einfach. Ich kann die Umstände nicht kontrollieren, aber ich kann diesen Vertrag mit mir selbst unterzeichnen, der mich dazu verpflichtet, bereit zu sein, wenn sich die Dinge ändern. Das Gefühl ist das Gleiche wie beim Klettern und vielleicht ist das der Grund, warum ich nie in Panik gerate oder den Kopf verliere.
Abgesehen von unseren Sessions an der rollenden Kletterwand, habe ich mir die Zeit genommen das Land zu entdecken und in Tannourine, einem der besten Kletterspots im Libanon, zu klettern. Nach den muslimischen Regeln (vor allem in Bezug auf die Kleidung) dauert es immer eine Weile, sich wieder an einen christlichen Ort wie Tannourine zu gewöhnen, an dem man in Shorts und Tank-Top klettern kann. Es war sehr warm, ungefähr 26°C im Schatten, aber dank der Trockenheit der Felsen war das Klettern trotz der Hitze ziemlich gut. Es war richtig cool, die erste 8b im Libanon Rotpunkt zu klettern und ein paar andere 8a’s zu begehen. Die Kletterer im Libanon kommen am Wochenende hierher und manchmal nehmen sie sich unter der Woche ein paar Tage frei. Es ist immer sehr bereichernd mit meinen Freunden hier zu sprechen – besonders über die Flüchtlingssituation.


Zur besseren Vorstellung: Der Libanon besitzt nur ¼ der Fläche der Schweiz und es leben dort 6 Millionen Menschen. 1/3 dieser Menschen sind Flüchtlinge – das macht den Libanon weltweit zu dem Land mit dem größten Flüchtlingsanteil.

Der Blick auf diese Zahlen verändert die Bedeutung, die das Wort „Toleranz“ für uns in Europa hat. Obwohl die Leute im Libanon auf engstem Raum zusammenleben, schaffen sie es irgendwie gemeinsam zu leben und zu arbeiten. In diesem Jahr befand sich das Quartier von ClimbAID in einem Haus in Chtoura, mitten in der Bekaa-Ebene – umgeben von typischen Betonbauten, bunten, landwirtschaftlich genutzten Feldern und vielen Flüchtlingslagern. Die meisten der Flüchtlinge leben in Hütten aus Holz und Planen. Manche der Bauten sehen recht stabil aus, andere weniger. Die Syrer arbeiten häufig den ganzen Tag auf den Feldern der lokalen Landbesitzer. Dennoch scheint das Leben im Libanon die Menschen zusammenzubringen. Als Fremder kann man seine Kinder nicht aufgrund ihrer Herkunft und Familiensituation trennen. Alle lieben es zu klettern, zu scheitern, besser zu werden und es ganz nach oben zu schaffen. Am Ende sind wir alle gleich.
Ich bin Beat von ClimbAID sehr dankbar, dass er mich von Zeit zu Zeit aus meiner Komfortzone herausholt. Ebenso allen freiwilligen Helfern, die an das Projekt glauben und sich selbst mit Herz und Seele einbringen. Ich bin dankbar dafür, dass ich so viele Leute kennenlernen darf, die ihre Erfahrungen beim Klettern an andere weitergeben möchten. Außerdem möchte ich meinen Partnern und Sponsoren danken, die mich bei Projekten wie ClimbAID unterstützen und mir die Möglichkeit geben, ein besserer Mensch zu werden.
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