Nina Caprez ist eine Kletterin, die kein Blatt vor den Mund nimmt, und sich nicht dafür schämt, große Ziele zu haben. Das macht sie ein bisschen gefährlich. Und sie bedauert überhaupt nichts: Nicht ihr Zigeunerleben. Nicht, dass sie keine Lust hat, das Klettern aufzugeben, sesshaft zu werden und Kinder zu bekommen. Nicht, wie stark sie sein will. Nicht, dass ihre ausgelassene Geburtstagsparty die für den nächsten Tag geplante El Cap-Begehung eines anderen Kletterers ruiniert hat. Nicht, dass sie und Lynn es nicht ganz geschafft haben, die Nose am 25. Jahrestag ihrer ersten, freien Begehung zu meistern. Sie arbeitet daran, Misserfolge zu bewältigen und die Dinge laufen zu lassen. Und sie entschuldigt sich für nichts davon. Ihr Motto: Dynamik.
Text: Lisa Richardson
Fotos: Tim Kemple

In dem Jahr, in dem Nina Caprez 32 Jahre alt wurde, verbrachte sie mehr Nächte draußen, als je zuvor: 200 Nächte unter freiem Himmel, 300 Tage am Fels. Ihr flatterhaftes Wesen, das sie mit 17 Jahren aus ihrem sicheren, konventionellen Leben in der Schweiz getrieben hat, ist nicht zur Ruhe gekommen. Sie verspürt nicht den Wunsch, sesshaft zu werden – auch wenn ihr häuslicherer Ex-Freund sich das gewünscht hätte.
2018 war kein durchgeplantes Jahr – das Klettern in Griechenland, Spanien, Chamonix, Madagaskar, dem Rätikon und im Yosemite hat sich einfach so entwickelt. „Es gibt Jahre, in denen man sich sehr mit der Natur verbunden fühlt und einfach nur draußen sein möchte. Ich wollte so viele Tage und Nächte wie möglich unter freiem Himmel verbringen. Es war ein großes Kletterjahr, aber ich bin froh, dass ich trotz der starken Fokussierung aufs Klettern, nicht nur über Klemmen und Moves geredet habe.“
Früher hatte sie nur Klettern in Kopf – ohne ein bisschen Besessenheit kommt man nicht zu so einer beeindruckenden Sammlung an gemeisterten Routen wie Caprez: Silbergeier (5.14a, Rätikon), Hotel Supramonte (5.13d, Sardinien), El Nino (5.13c A0, Yosemite Valley), Ultime démence (5.13c, Verdonschlucht), la Ramirole (5.13d, Verdonschlucht).
Aber vor vier Jahren, nachdem die Beziehung mit Cédric Lachat (dem sie den größten Einfluss auf ihre Kletterkarriere zuspricht) endete, veränderten sich ihre persönlichen Ziele. Heute lässt sie den Dingen freien Lauf – und es funktioniert wunderbar.
„Kurz bevor Cédric Lachat und ich uns trennten, pushten wir unser Limit immer weiter – schwieriger, höher, schneller. Das war einfach zu viel für mich.„
2014 versuchten Caprez und Lachat die Route Orbayu in Picos de Europa in Spanien, eine 5.14b. Und Caprez scheiterte. „Es war eine wirklich harte Mehrseillängen-Route mit einer 14b Schlüsselstelle und ich war nicht in der Lage sie wie geplant zu klettern.“
Damals zerriss es sie. Aber im Rückblick erkennt sie, dass dieses Erlebnis „die beste Erfahrung war, um zu lernen, mit Misserfolgen umzugehen und neue Ziele zu erreichen.“


Caprez wurde bewusst, dass diese fixen Ziele ihr den Spaß am Klettern genommen hatten. „Beim Klettern gibt es eigentlich keine Regeln. Ich liebe das Klettern. Ich liebe es mich zu pushen. Natürlich. Aber ich brauche dazwischen einen guten Ausgleich – wie z.B. das Klettern mit Freunden oder in Routen, die einfach Spaß machen. Und ich brauche Zeit, die gekletterten Routen zu reflektieren. Für mich ist das Klettern eine Schule des Lebens. Deshalb habe ich kein Interesse daran, nur zu pushen, um immer noch besser zu werden. Für mich ist es wichtiger, die Dinge zu hinterfragen. Was habe ich gelernt? Wohin bringt es mich? Macht es Sinn oder nicht? Wie fühle ich mich wirklich? Ist mein Körper ok?“
Mit dieser neuen Einstellung war es die absolute Meisterklasse, einen Monat lang mit Lynn Hill in der Wand zu hängen und den 25. Jahrestag von Hills legendärer, ersten freien Begehung der Nose zu feiern.
Obwohl Caprez seit 2009 professionell klettert, besuchte sie 2017 das erste Mal den Yosemite. Im Oktober 2017 kletterten sie und ihr damaliger Freund die Nose auf ganz klassische Art und Weise – in drei Tagen und mit Unterstützung bei den schwierigen Seillängen. Es war eine große Enttäuschung.
„Es war irgendwie seltsam“, reflektiert Caprez, „vielleicht, weil ich etwas anderes erwartet hatte. Die Nose ist mittlerweile die überfüllteste Mehrseillängenroute der Welt. Sie ist blank geschliffen von all den Leuten und dem Hauling. Als wir oben ankamen, dachte ich: „Das war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.“ Normalerweise bin ich nicht mit 30 anderen Teams in einer Wand.“
Trotzdem ließ die Nose sie nicht so einfach los.
„Nachdem wir wieder unten angekommen waren, konnte ich nicht schlafen. Ich schnappte mir meinen Computer und schaute mir all die Videos von der Nose an. Plötzlich war ich total begeistert von der Idee, Changing Corners frei zu klettern. Diese Seillänge (5.14a/b) ist der technische Knackpunkt der Route. Mittlerweile war es 1 Uhr morgens, aber ich weckte meinen Freund: „Hey, was hältst du von der Idee? Ich glaube, es wäre echt cool, nach oben zu gehen, uns in die Route abzuseilen und Changing Corners zu probieren.“
„Soll das ein Witz sein, Nina?“, fragte er, „Die Nose ist für mich abgehakt. Wir sind sie eben erst geklettert. Du hast doch selbst gesagt, dass es keine so tolle Route ist. Also, Nein!“
„Ich sagte nur, ‚Oh, ok.‘, und schrieb eine Nachricht an Lynn.“

Caprez und Lynn Hill kennen sich über ihren gemeinsamen Sponsor Petzl, sind bei früheren Athletentreffen zusammen geklettert und in Grenoble, wo Caprez lebt, gemeinsam durch die Straßen gezogen.
Um 1 Uhr morgens textete also eine kurzentschlossene Caprez eine Instagram-Nachricht von Camp 4 an Lynn Hill.
„Lynn ist eines der inaktivsten Mitglieder auf Instagram!“
Hill (aka @linacolina) antwortete 6 Monate später. Sie hatte die Nachricht gerade erst gelesen. Sie war sich nicht sicher, ob Caprez es ernst meinte. Aber sie war offen. 2018 wären es 25 Jahre her, dass die Route – von Hill selbst – erstmals frei geklettert wurde. Was wäre besser, als die Route in Gedenken an dieses Ereignis noch einmal zu klettern? Caprez organisierte die Ausrüstung, buchte die Tickets und Hill nahm sich die Zeit. Es war das erste Mal seit der Geburt ihres 15-jährigen Sohns, dass Hill einen ganzen Monat unterwegs war.
„Es war Wahnsinn“, erzählt Caprez, „wir wollten beide unbedingt klettern. Für Lynn war es wichtig, die Route nochmal zu machen – nicht nur wegen der Show. Es war magisch. Lynn ist so eine Legende.“
Für Nina war es eine unglaubliche Erfahrung, die Nose mit der Person zu klettern, die diese Route erstmals frei geklettert ist, am 25. Jahrestag dieser Meisterleistung und ungefähr in dem Alter, in dem Lynn bei ihrer ersten Begehung war.
„Es ist nicht verwunderlich, dass es bis heute nur acht Leute geschafft haben, diese Seillänge frei zu klettern. Nicht ohne Grund haben nicht mehr Leute die Route einfach durchgezogen“, schwärmt Caprez, „es ist ein langer Weg. Ich habe gemeinsam mit Lynn Hill einen ganzen Monat in der Route verbracht. Am Ende des Monats haben wir einen dreitägigen Push versucht, bei dem ich über 90% der Route frei geklettert bin – bis auf etwa vier Meter der Seillänge Changing Corners. Es war trotzdem viel mehr als ich erwartet hatte. Lynn spornte mich an, mein Bestes zu geben. Sie glaubte an mich. Das war für mich extrem wertvoll.“
Diese Erfahrung zeigte aber auch, was für eine Heldentat Hill vor 25 Jahren vollbracht hatte. „Es ist einfach eine der größten Leistungen, die je erbracht wurden.“
Zurück am Boden feierte Caprez in Camp 4 ihren 32. Geburtstag – ein ausgelassenes Fest mit Lärm, Gesang und Tanz bis 2 Uhr morgens. Zuhause in der Schweiz erhielt sie zwei Wochen später eine wütende E-Mail in der ein anderer Kletterer behauptete: „Ich wollte am nächsten Morgen El Cap klettern und wegen dir lief es echt Scheiße. Es ist eine Schande, dass du eine professionelle Athletin bist. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, du solltest aufhören Partys zu feiern, falls du was erreichen willst.“
Aber für Caprez ist das Klettern ein dynamischer Weg und es ist ihr wichtig geworden die Balance zwischen Leistung und Party zu finden. Die Balance zwischen Anstrengung und Erholung, zwischen vollem Einsatz und dem ganzen Rest. Ihre Leidenschaft für das Klettern ist ungebrochen und genauso groß wie vor 20 Jahren, als sie mit dem Klettern anfing. Aber der Blickwinkel verändert sich.
“Ich habe viele fremde Länder gesehen, arme Länder, in denen die Leute echte Probleme haben. Länder, wo es noch immer Krieg gibt, in denen die Menschen kämpfen und ihre Familien verlieren. Und ich darf an Felswänden klettern? Wow, das ist sureal! Ich habe solches Glück. Deshalb kann das Klettern für mich kein Drama mehr sein. Ob ich eine Route schaffe oder nicht, ist in dieser Welt nicht wirklich von Bedeutung.”

Anstatt eine Route nach der anderen abzuhaken, geht Caprez heute mit einer anderen Einstellung ans Klettern. Es ist mehr wie eine neue Beziehung einzugehen – mit weniger Unnachgiebigkeit und Intensität, aber mehr Neugierde. „Es gibt immer einen Weg und das fasziniert mich. Ich schaue einfach, wie ich mich in einer Route fühle, ob es da eine Verbindung gibt. Je ehrlicher ich zu mir selbst bin, mit dem Gefühl beim Klettern, mit der Route, dem Ort, mit meinem Partner, desto freier und harmonischer klettere ich. Wenn man eine Route nicht gleich beim ersten Anlauf schafft oder sich nicht so bewegen kann, wie man es gerne möchte, ist es mit dieser Einstellung eher so, dass man sich denkt: ‚Ah, interessant. Was bedeutet das für mich?'“
Caprez wird im Herbst 2019 an die Nose zurückkehren. „Mir fehlt nur ein kleines Stück! Es war so motivierend, hart zu trainieren und zu spüren, wie man stärker wird.” Die Verbindung zur Nose ist noch nicht vorbei. Und Caprez bedauert das nicht im Geringsten.
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