Text und Fotos: Frank Wolf
Methusalem schleicht sich auf der gefrorenen, schmutzigen Straße von Pont Inlet an mich heran. Es ist fast Mitternacht und ich ziehe schon eine ganze Weile meine Runden durch diese Inuit-Stadt, um den Jetlag abzuschütteln, der sich auf einer Odyssee an Flügen von Vancouver nach Grönland aufgebaut hat. Ich ziehe den Kragen meiner Daunenjacke hoch, um mich vor der kalten Mailuft zu schützen, während dieser raue, drahtige Typ in seinem orangen Baumwoll-Einteiler entspannt und warm aussieht.
“Comme en sa va?” fragt er mich in der Annahme ich sei einer der vielen Unternehmer aus Quebec, die hier in der Stadt arbeiten.
“Sie sprechen französisch?“, frage ich ihn.
“Nur ein bisschen,” grinst er und streckt seine Hand aus, „Ich heiße Methusalem.“
Wir begrüßen uns und ich frage: „Methusalem? Das ist ein ungewöhnlicher Name… sehr biblisch?”
“Ja, aus der Bibel, das bin ich…“ Er macht eine kurze Pause, als würde er diesem Gedanken nachhängen, und fragt dann: „Wo kommen Sie her?“
“Vancouver…und Sie?”
“Von hier.“
“Waren sie schon mal auf Bylot Island?” Ich zeige auf die zerklüfteten, schneebedeckten Berge, die 25 km entfernt aus dem Meer aufragen. Das Gelände auf dieser Seite besteht aus sanften Hügeln, aber Bylot gleicht einem riesigen Stück der Alpen, das ein Riese ausgerissen und in den arktischen Ozean geworfen hat.
“Nein…aber ich bin mit dem Blick darauf aufgewachsen.”
“Wie kommt es, dass Sie nie dort waren?”
“Es gibt dort nichts zu jagen, keine Robben, keine Karibu… aber ich bin schon mal mit einem Motorschlitten drumherum gefahren… hat eine Woche gedauert.“
“Sind Sie dieses Wochenende wieder draußen unterwegs?“
“Nein, ich bin Bauarbeiter – ich muss arbeiten.“ Er grinst wieder zeigt auf seinen orangen Einteiler mit den Sicherheitsreflektoren.
“Ich wünsche Ihnen trotzdem eine schönes Wochenende, Methusalem.“
“Ja, Ihnen auch.“ Methusalem nickt mir freundlich zu und geht weiter.
Der Methusalem aus dem alten Testament war angeblich der älteste Mensch aller Zeiten. Er erreichte ein reifes Alter von 969 Jahren. Der Methusalem aus Pond Inlet ist vielleicht 50 Jahre alt, aber seine Inuit-Vorfahren haben das Land hier schon jahrtausendlang bewohnt. Die gegenüberliegenden Byam Martin Mountains sind ebenfalls Methusalem-artig: Sie bestehen aus 3 Milliarden Jahren altem Gestein, das als Teil der großen arktischen Gebirgskette vor Urzeiten emporgehoben wurde.
Wie fast alle in „Pond“, sieht Methusalem die Berge von Bylot jeden Tag, ohne sie je wirklich „gesehen“ zu haben. Das ist für ihn völlig in Ordnung. Die Inuit sind sehr praktisch. Warum sollte man irgendwo hin gehen, wenn man dort nicht gut jagen kann? Meine Perspektive ist eine andere. Wir jagen auch – aber nicht nach Beute, sondern nach Abenteuer.
Bylot liegt vollständig im Nunavut’s Sirmilik National Park, einer 22.000 Quadratkilometer großen Wildnis nördlich des 73. Breitengrades, die kaum von Menschen besucht wird. Mein Partner Dave Garrow und ich werden die einzigen Skifahrer sein, die dort in diesem Jahr unterwegs sind. Der Plan ist, 12 Tage lang das Gebiet erkunden.
Parkmanager Carey Elverum erzählt uns, dass es in den 17 Jahren, in denen er den im Jahr 2000 gegründeten Sirmilik Park geleitet hat, nicht viele Skifahrer gab, die sich in dieses Gebiet gewagt haben. „Es kommen vielleicht jedes zweite Jahr ein paar Skifahrer zu uns.“
Auf dem eisigen Südgrad des Angilaaq Mountains beißen sich die Zacken meiner Steigeisen in den Schnee. Gleichmäßig atmend steige ich entlang eines weißen Bandes auf, das sich durch Felsbrocken windet. Dave folgt mir. An einem ausgeprägten Hinkelstein machen wir eine Pause und schauen zurück. Unser Zelt ist von hier oben nicht mehr zu erkennen, verloren 7 km entfernt in der weiten Ebene eines scheinbar endlosen Gletschers. Es ist warm heute… das Thermometer zeigt -3°C, aber gefühlt sind es +10°C. Es weht nicht das kleinste Lüftchen während wir uns unter der knallenden, nicht untergehenden Sonne plagen.
Wir klettern am Seil das letzte Stück auf einem schneebedeckten Grat, der zum Gipfel führt. An beiden Seiten geht es 300 m steil bergab. Sollte einer von uns stolpern und in den Abgrund stürzen, muss der andere auf der gegenüberliegenden Seite in die Tiefe springen, um das Gleichgewicht zu erhalten.
Angilaaq bedeutet auf Inuit „der Höchste“. Der Berg liegt im geografischen Zentrum von Bylot. Weil motorisierte Fahrzeuge im Park nicht erlaubt sind, ist der Zugang zu diesem Berg nicht leicht. Wir müssten 4 Tage lang einen Schlitten hinter uns herziehen, drei Pässe überwinden und der ganzen Länge des Sirmilik Gletschers folgen, um unser Camp am Fuß des Malik Mountains – dem zweithöchsten Berg im Park – zu erreichen. Unsere Ski sind perfekt für lange Strecken, aber wir müssen sie bei den Auf- und Abstiegen gegen Steigeisen tauschen, weil harter, windgeblasener Schnee und Eis hier die steileren Hänge dominiert.
Wir stehen um fünf Uhr auf, mit dem Plan beide Berge – Malik und Angilaaq – an einem Tag zu besteigen und dann noch über einen der Pässe zurückzugehen, um ein tiefer gelegenes Camp aufzuschlagen, bevor das vorhergesagte, schlechte Wetter reinkommt. Am Malik erwartet uns ein gerader mit ein paar Felsen durchsetzter Hang. Vom Gipfel können wir den Angilaaq mit seiner klassischen Diamantform gut erkennen. Ein markanter, schneebedeckter Grat glitzert verführerisch in der Sonne.
Als wir den Gipfel des Angilaaq erreichen, sehen wir im Norden eine ganze Armee von Gipfeln, die sich bis Lancaster Sound, dem Durchgang zur Nordwestpassage erstrecken. Das ist der Ort, der Sir John Franklin und anderen adeligen Dummköpfen zum Verhängnis wurde – immer wieder, wie bei den Lemmingen.
Von hier aus sieht alles friedlich aus – eine weißliche Decke breitet sich über dem schlafenden Meer aus. Dahinter erkennt man Devon Island. Ich drehe mich langsam im Kreis, um alles auszunehmen. Ich stehe auf dem Dach einer gefrorenen Welt, tausend weiterer Gipfel und Bergrücken ragen aus den Gletschern heraus, die sich wie erstarrte Schlangen in jedes Tal ausbreiten, bis sie sich schließlich ins Meer ergießen. Es ist kaum zu glauben, das nur ein paar Leute je hier oben gestanden haben – das Ergebnis der Abgeschiedenheit und einer nur zwei Monate andauernden Skisaison, die zwischen der Dunkelheit und bitteren Kälte des Winters und der schnellen Schmelze im Sommer liegt.
Ich finde, es ist viel interessanter hier oben zu stehen, als zum Beispiel auf dem Everest oder dem Denali. Diese beiden hohen Gipfel werden von vielen Leuten auf die Liste der Dinge gepresst, die man in seinem Leben noch machen möchte. Wirkliche Abenteuer sollten undurchsichtig und abgelegen sein – und nicht auf dem Radar. Es gibt nichts Abenteuerliches an bekannten Dingen – sie können schwierig oder herausfordernd sein, aber nicht abenteuerlich. Ich messe mit meinem GPS die Höhe und entdecke, dass der Gipfel 1975 m hoch ist – 24 m höher als auf den uns bekannten offiziellen Karten oder wissenschaftlichen Materialien.
In den nächsten Tagen gehen wir auf dem selben Weg zurück, den wir gekommen sind und unternehmen Abstecher in einige Seitentäler, um die Berge an ihrem Ende zu erkunden. Hier waren bisher so wenige Menschen, dass die Orte keine Namen haben. Soweit wir wissen, hat noch niemand diese Berge bestiegen. Warum sollten sie auch? Es ist wie Methusalem gesagt hat – es gibt hier nichts zu jagen.
Etwa nach der Hälfte der Abfahrt vom Sirmilik Glacier schlagen wir unser Lager auf, fahren dann mit unseren Ski in Richtung Osten und klettern langsam zur Rückseite eines halbmondförmigen Kessels hoch. Die Dimensionen hier sind so riesig, dass wir nur zwei unbedeutende Staubkörnchen im weißen Porzellan der Landschaft sind.
Wir entscheiden uns für einen reizvollen Berg mit einem steilen, felsigen Grat, der am nordwestlichen Ende des Kessels liegt. Obwohl der Gipfel knapp 300 m niedriger liegt als der Angilaaq, ist der tatsächliche Aufstieg fast doppelt so lang, weil unser Startpunkt auf dem Gletscher wesentlich tiefer liegt. Am Camp waren es -20°C mit Nordwind aber unsere Aufstiegsroute ist windgeschützt und recht angenehm. Als wir die Südflanke hochsteigen, beginnt sich der Schnee in unseren Steigeisen festzusetzen und zwingt uns immer wieder anzuhalten, um die Steigeisen mit dem Schaft unserer Pickel zu säubern. Es ist der anstrengendste Gipfel unseres Trips, aber wir werden mit einer spektakulären Aussicht belohnt: Der Sirmilik Glacier auf der einen Seite und eine ausgedehnten Fläche mit Bergen, die sich bis zu den Eisschollen im Ozean erstrecken, auf der anderen Seite.
Es gibt so viele unbestiegene Berge in diesem Park, das es durchaus möglich ist, dass unser unbenannte Berg gerade seine erste Besteigung erlebt hat. Es gibt nicht viele Orte auf der Welt, an denen die Menschen nicht Fuß gefasst haben. Orte, an denen eine wunderbare Aussicht, nicht schon von jemand anderem betrachtet wurde. Für mich ist das etwas Besonderes – mehr noch als auf dem Angilaaq – eine wundervolle Kombination aus Abenteuer und Unklarheit.
Zurück am Camp untersucht Dave die direkte Umgebung unseres Zeltplatzes nach Gletscherspalten, damit wir nicht von einem Sturz in einen tiefschwarzen Abgrund geweckt werden. Wir schmelzen Schnee, um Wasser zu machen, essen unsere gefriergetrocknete Outdoor-Mahlzeit, süffeln ein bisschen Whiskey und ziehen uns ins Zelt zurück. Dave kümmert sich um seine Blasen und ich vergrabe mich in ein düsteres Buch mit dem Titel “In the Land of White Death”, in dem es um die Crew eines sibirischen Jagdschiffs geht, die Anfang des 20. Jahrhunderts zwei Jahre lang im Packeis gefangen war und versuchte ihrem Schicksal durch die gefährliche Reise über den arktischen Ozean zu entkommen. Das relativiert die Schwierigkeiten, die wir auf unserer Reise erlebt haben, ziemlich.
Ich trage eine Schlafmaske, um meinen Körper davon zu überzeugen, dass es Nacht ist. Trotzdem wache ich alle paar Stunden aus einem unruhigen, traumreichen Schlaf auf. In diesen elf Nächten mit mystischen, durch das Licht hervorgerufenen Visionen habe ich lebendige Begegnungen mit fast allen Leuten, die ich je gekannt habe. Einmal erwache ich mit der Erinnerung an einen Segeltrip im Südpazifik, den ich mit meinem mittlerweile verstorbenen Vater unternommen hatte – und es dauert eine ganze Weile, bis ich realisiere wo ich bin. Dieser Traum scheint so real, dass mich das Wissen, dass er noch immer tot ist, mit Traurigkeit erfüllt. Schnell schlafe ich wieder ein, in der Hoffnung ihn im Traum wiederzufinden.
An unserem vorletzten Tag steigen wir zu einer flachen Kuppe auf, wo wir Fuchsspuren entdecken, die zu einer aperen Stelle führen. Zwischen den Felsen, den Heidesträuchern und der Grasnarbe liegt der Kot von Füchsen und verschiedenen Hasenarten. Ein paar Raben kreisen über dieser Stelle und eine einsame Schneeammer singt ihr schrilles Lied, während sie vorbeischießt. Die ersten Anzeichen des Frühlings haben in Bylot Einzug gehalten. Die Skisaison in Methusalems altem Land ist vorbei – mit einer Gesamtzahl von zwei Skifahrern in 2017.
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Frank Wolf ist ein kanadischer Abenteurer, Schriftsteller, Fotograf und Umweltschützer. Er ist für seine Magazinartikel und Filme bekannt, in denen er Expeditionen in die Wildnis rund um den Globus dokumentiert – mit einem Fokus auf den kanadischen Norden. Zu seinen Expeditionen gehört die erste Durchquerung Kanadas mit dem Kanu in einer Saison sowie eine 2000 km lange Winter-Fahrradtour auf dem gefrorenen Yukon River von Dawson nach Nome. 2015 wurde er vom kanadischen Geographic Magazine zu einem der Top 100 Entdecker benannt und 2012 vom Explore Magazine zu den Top Ten der kanadischen Abenteurer.
„Meine Abenteuer sind nur eine andere Art zu reisen. Die Neugier zieht mich zu den weißen Flecken auf der Karte. Orte, für die es keinen Reiseführer gibt, der einem sagt, was man tun und wo man hingehen soll. …Skifahren, Kanufahren, Kajakfahren, Wandern, Radfahren, Rafting… Ich nutze diejenige, nicht-motorisierte Fortbewegungsmöglichkeit, die für mein Vorhaben am besten funktioniert. Am Ende einer Expedition übersteigt das Erlebnis immer das, was ich mir in der Planungsphase ausgemalt habe. Der Haiku-Dichter Matsuo Basho sagt: „Folge nicht den Fußstapfen der Weisen. Strebe nach dem, wonach sie gestrebt haben.“ Sowohl im Leben als auch im Abenteuer bringt es das ziemlich auf den Punkt.“
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