Text: Will Gadd
Fotos: Christian Pondella
Unter mir ein in den Abgrund tosender Fluss. Nur ein Stück unterhalb meiner Steigeisen. Das flößt mir mehr Angst ein als die Eiskletterei über mir. Denn das Eisklettern ist mir vertraut. Es ist seit mehr als 35 Jahren meine Leidenschaft. Aber ein eiskalter Fluss, der an mir vorbei und mehr als 1000 Meter tief unter das grönländische Inlandeis stürzt? Das ist echt gruselig! Ich glaube, das Unerforschte daran macht es so beängstigend. Wo fließt das Wasser hin? Was wäre, wenn mich der Fluss in die 1000 Meter tiefe und hundert Kilometer von der kargen, grönländischen Küste entfernte Dunkelheit reißen würde? Ich wollte Antworten auf diese Fragen – aber ohne dabei zu sterben. Im August schmolz die ganze Oberfläche der Eiskappe in unserer Umgebung. Es bildeten sich wunderschöne, blaue Seen. Diese speisten wunderschöne, furchteinflößende Flüsse, die sich über das Eis schlängelten, bevor sie in riesigen Gletschermühlen oder Eislöchern senkrecht nach unten stürzten. Die Temperaturen lagen tagsüber oft deutlich über dem Gefrierpunkt, so dass wir ein ernsthaftes Problem hatten, unsere Zelte trocken zu halten.

Anfang Oktober flogen der Glaziologe Jason Gulley und ich wieder nach Grönland – und diesmal bot uns das Inlandeis ein völlig anderes Bild. Auf der grönländischen Eiskappe ist es fast immer windig, weshalb wir nach unserer Landung zuerst ein Bollwerk gegen die Schneeverwehungen errichten mussten. Ansonsten wären unsere Zelte in kürzester Zeit unter dem Triebschnee verschwunden. Der kontinuierliche Wind machte die profansten Dinge – wie den Gang zur Toilette – zu einem verzweifelten Kampf zwischen nackter Haut und Erfrierungen. An der tosenden Gletschermühle, in die wir uns im Sommer abgeseilt hatten, war es totenstill – abgesehen von den gigantischen “BOOOOOM” Geräuschen, die ertönten, wenn sich das Inlandeis dehnte und in eine weniger gespannte Position brachte. Als ich diese Geräusche das erste Mal hörte, wäre mir vor Schreck fast mein Mittagessen aus der Hand gefallen. Aber nach ein paar weiteren BOOOOOMs, waren sie nur noch ein bisschen furchteinflößend. Wir warfen Eisblöcke in das riesige Loch und hörten Sekunden später einen massiven Widerhall. Es konnte losgehen.
Mein Job in Grönland war es, Professor Gulley dabei zu helfen, in die Gletschermühlen hinabzusteigen und sie zu studieren, um – statt sich auf Modelle zu verlassen – mehr darüber zu erfahren, wie das Wasser tatsächlich durch die Eiskappe fließt. Dieses Wissen ist wichtig, um abschätzen zu können, wie schnell das Schmelzwasser das Bett des Inlandeises erreicht und welchen Einfluss es dort auf die Fließgeschwindigkeit der Eiskappe in Richtung Meer ausübt. Die kalbenden Gletscher haben eine große Auswirkung auf den Anstieg des Meeresspiegels. Auch auf die Bewegungen der Meeresströmungen und damit auf die globalen Wetterbedingungen. Höhlenklettern am Gletscher ist pure Wissenschaft und echte Forschung. Jeder Trip unter die Eisoberfläche würde das wissenschaftliche Verständnis über das Inlandeises vergrößern und uns zu einem Ort bringen, an dem noch niemals ein Mensch gewesen ist. Dort unten gibt es kein Google Maps und keine Satellitenbilder – nur einen vertikalen Schacht, der irgendwohin führt.


Alle existierenden Modelle besagten, dass die Gletschermühlen senkrecht nach unten zum Bett des Inlandeises führen. Im Frühwinter schließen sich diese tief im Gletscher liegenden Höhlen aufgrund des hohen Drucks. Das System staut dann Wasser bis zu einer Höhe von ca. 200 Metern unterhalb der Oberfläche an. Jason und ich planten, uns bis zu diesem Wasserspiegel in die Gletschermühle abzuseilen. Dort wollten wir in dem Wasserspiegel, der gefroren sein sollte, tauchen. Aber der Gletscher hatte noch nie von existierenden Modellen gehört…
In etwa 100 Metern Tiefe trafen wir auf einen dröhnenden, horizontalen Gang. Die Wände waren mit sich abschälenden Eiskristallen übersäht, die ich beim Abseilen entfernte. Das führte zu dem lautesten Geräusch, das ich jemals in den Bergen gehört hatte, ohne dass etwas Ernsthaftes passiert war. Egal wie viele dieser Eiskristalle ich entfernte, es gab mehr davon. Als wir bei dem horizontalen Gang ankamen, wurden wir mit einer ganzen Menge Gefahren konfrontiert. Es gab einen See aus Eisschlamm am Boden des Ganges. Wir hatten unsere Tauchausrüstung dabei, aber es ist unmöglich im Eisschlamm zu tauchen…
Laut der existierenden Modelle sollte es nur einen Gang geben, aber es gab definitiv mehrere Gänge, die sich über uns verzweigten. Wir hielten nach einer Umgehung Ausschau, indem wir die Wände wie Spinnen seitwärts entlang kletterten. Jedes Mal, wenn ich meine Eisaxt in die Wand schlug, ertönte ein lautes, beängstigendes “CRACK!”. Nach einer Weile war dieses fürchterliche Geräusch jedoch nur noch beunruhigend. Ich kletterte und fixierte das Seil, aber jeder Versuch endete entweder in einer Wand, in der das Eis zu instabil zum Klettern war oder im Eisschlamm. Dann fielen die Temperaturen auf -30°. Das zwang uns dazu zu warten, bis sich das Eis an die Temperatur angepasst hatte. Wenn Eis im Inneren und an der Oberfläche unterschiedlich Temperaturen besitzt, ist es immer sehr instabil.

Als wir uns zurück in den Gang abseilten, war es offensichtlich, dass das Eis hier randaliert hatte. Riesige Eisbrocken bedeckten den Boden, aber der Eisschlamm war fest. Wir beobachteten die Trümmer und die über uns hängenden Geschosse – und bewegten uns schnell durch den horizontalen Gang. Nach ein paar hundert Metern, ca. 100 Meter unterhalb der Oberfläche, trafen Decke und Boden zusammen. Obwohl wir gerne noch geblieben wären, traf ich die schwierige Entscheidung die Erkundung ohne Tauchgang abzubrechen. Es wäre unverantwortlich gewesen, eine ganze Filmcrew diesen gigantischen Eisschichten auszusetzen. Wir flüchten nach oben, aber auf dem Weg nach draußen entdeckte ich auf der Rückseite der Gletschermühle das schönste Stück Eis, das ich je gesehen hatte. Es war perfekt! Das Eis besaß einen kontinuierlichen Überhang und war vom tosenden Fluss glatter geschliffen als jede Skateboardrampe. Ich musste es klettern. Jason war nicht gerade erfreut, aber wir schwangen uns hinüber und richteten einen Standplatz ein. Ich bin schon sehr viele Eiswände geklettert, aber diese 40 Meter-Seillänge war die Beste von allen. Jeder Schlag war aufregend und ich begann zu verstehen, dass altes Gletschereis immer unter Spannung steht. Wie bei den vielen Eisbergen und in den Gletscherspalten, die ich in Kanada geklettert bin, reagierte das alte Eis stark auf die Schläge mit der Eisaxt. Ich weiß nicht wie alt dieses Eis war – wahrscheinlich mehr als 10.000 Jahre. Es reagierte und ich musste es ein bisschen säubern, aber dann konnte ich aus dieser vertikalen Welt nach oben in den beißenden Wind klettern. Allein diese Seillänge war die Reise wert – ebenso wie die Erforschung und das verbesserte Verständnis des grönländischen Inlandeises.
Bei den besten Trips erreicht man zwei oder drei Ziele auf einmal. Und diese Expedition war definitiv der coolste Trip meines Lebens. Jason und ich planen, im nächsten Jahr zurückzukehren und das Inlandeis weiter zu erforschen. Und hoffentlich gelingt uns dann ein aufregender Tauchgang unter dem Eis.