Text: D’arcy Mcleish
Es ist schwierig, Chamonix zu beschreiben. Der Ort liegt tief unten im Tal, eingebettet zwischen den höchsten Gipfeln der Alpen. Chamonix-Mont-Blanc ist ein klassischer Bergsteigerort in der französischen Region Haute Savoie, dessen Geschichte fast tausend Jahre zurückgeht. Es gibt eine Mischung aus altem Frankreich, extremer Bergsteigerszene und einem Lebensgefühl, einem „joie-de-vivre“, das man sonst nirgendwo findet. Für Skifahrer und Alpinisten ist Chamonix einer der wenigen Plätze dieser Welt, an denen das unmittelbar erreichbare Terrain unendliche Möglichkeiten, Schönheit und manchmal Gefahr zu bieten hat.
Chamonix gilt als Geburtsort von Ski-Mountaineering und Steep Skiing und beeinflusst die Bergsteigerszene seit mehr als einhundert Jahren. Nirgendwo sonst auf der Welt liegen die Cafés mit gutem Espresso und Pain au Chocolat und das wildeste, gefährlichste Gelände nur eine 30-minütige Seilbahnfahrt auseinander. Es ist ein unwirkliches Gefühl für alle, die Chamonix noch nicht erlebt haben.

Diese Seilbahnfahrt auf die berühmte Aiguille du Midi ist eine der spektakulärsten Liftfahrten der Welt. Der Blick vom Gipfel ist überwältigend und das mit wenigen Schritten erreichbare Gelände hat Athleten, Guides, Kletterer, Skifahrer und Wingsuit-Flieger aus der ganzen Welt dazu gebracht, in Chamonix zu leben, zu arbeiten und Spaß zu haben. Sie kommen alle, um im Schatten des Mont-Blanc Antworten zu finden und das Leben zu spüren.
Der aus Olso stammende Stian Hagen, Big Mountain Skifahrer und Ski-Mountaineerer, ist einer von ihnen. Er lebt mittlerweile seit mehr als 20 Jahren in Chamonix, weil dieser Ort ihm alles bietet, was man sich von einem Leben in den Bergen erhofft. „Chamonix ist etwas ganz Besonderes. Es sind nicht nur die Berge, die man von überall aus sehen kann und die in dieser Stadt immer präsent sind, es sind vor allem die Leute, die Chamonix zu etwas Besonderem machen. Sie alle sind hier her gekommen, weil sie die Berge lieben. Egal mit wem man spricht – vom Busfahrer bis zum Angestellten des lokalen Lebensmittelgeschäfts – es ist sehr wahrscheinlich, dass sie alle einige der weltweit wildesten Erstbefahrungen oder Erstbesteigungen gemacht haben. Jeder hier hat irgendeine Verbindung zu den Bergen.“

Stian Hagen
Lange Zeit war es in Chamonix ziemlich schwierig zur Bergsteigerszene dazuzugehören, wenn man kein Local war. Aber die Dinge verändern sich. In den letzten 10 Jahren ist etwas ziemlich Cooles passiert: Einheimische und Bergsportler aus aller Welt sind zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen. „Als ich vor ungefähr 20 Jahren das erste Mal nach Chamonix kam, gab es eine tiefe Kluft zwischen Locals und Gästen – selbst wenn diese Gäste extreme Bergsportler waren.“ Auch Bergführerin Isabelle Santoire, die ursprünglich aus Quebec kommt, lebt seit 20 Jahren in Chamonix. „Obwohl ich die gleiche Sprache spreche, war es am Anfang nicht leicht, wirklich dazuzugehören.“
Der schnelle Zugang zu hochalpinem Gelände hat es Athleten ermöglicht, die Grenzen des Machbaren immer weiter zu verschieben. Dabei haben sich die unterschiedlichen Bergsportarten miteinander vermischt. Man kann hier nicht einfach nur Skifahren oder Klettern oder Bergsteigen. Ein Großteil des Geländes erfordert, dass man in allen drei Disziplinen versiert ist – und sich mit den Gefahren durch Lawinen und Gletscherspalten auseinandersetzt. Mit jeder Gondel und jeder Seilbahn gelangt man in einzigartiges Gelände, das es sonst nirgendwo gibt. Kein Wunder, dass „Cham“ auf der Wunschliste jedes Skibergsteigers steht.

Chamonix war immer eine Art Testgelände, ein Ort, an dem die Grenzen des Machbaren verschoben oder komplett verworfen wurden. In vielen Disziplinen haben die Leute Herausforderungen gemeistert, die man für unmöglich hielt – doch zu einem hohen Preis: Oft haben sich die Berge rund um Chamonix genauso viel genommen, wie sie gegeben haben.
Der Trend, abseits der Pisten unterwegs zu sein, hat in Chamonix – wie in anderen Bergsteigerorten – massiv zugenommen. Immer mehr Leute sind in den Bergen unterwegs, häufig ohne gute Ausbildung oder der Fähigkeit Risiken einzuschätzen. Während die Berge ihre Opfer forderten, erkannten sowohl Einheimischen als auch Fremde, dass es an einer guten Ausbildung über die Gefahren der Berge fehlte.

Das ständig präsente Risiko eines so zugänglichen, hochalpinen Geländes hätte in nordamerikanischen Skigebieten dazu geführt, dass man eine permanente Absperrung um das ganze Gebiet aufgestellt hätte. Aber dieses Risiko hat auch dazu beigetragen, hier im Vallée Blanche etwas Wunderbares entstehen zu lassen. Es wird immer selbstverständlicher, sein Wissen zu teilen und die Leute besser auszubilden. Das hat die lokale Szene positiv verändert. „Die Motivation zu einer solideren Ausbildung kam von den Leuten selbst, aber mittlerweile helfen viele Unternehmen dabei, Wissen an alle weiterzugeben, die in den Bergen unterwegs sein möchten.“ Isabelle kennt sich mit der Ausbildung aus. In ihrem Beruf als Bergführerin, geht es darum, den Leuten beizubringen, wie sie sich sicher in den Bergen bewegen können. „Viele Outdoorfirmen haben angefangen, Kurse und Workshops durchzuführen und auf diese Art und Weise Locals und Gäste zusammengebracht. Das hat zu einer fantastischen Veränderung der Szene und der Stimmung hier beigetragen.“
Diese Veränderung besteht darin, dass eine Gemeinschaft entstanden ist. Die Gemeinschaft in Chamonix ist jetzt ein bisschen so wie das oberhalb der Stadt liegende Gelände – für alle zugänglich. Viele Leute glauben, dass es in Chamonix nur anspruchsvolles Gelände gibt. Aber das stimmt nicht. Isabelle betont, dass es hier „Terrain für die unterschiedlichsten Levels und Fähigkeiten gibt, dass aber eine gute Ausbildung über die möglichen Gefahren in diesem Gelände unbedingt notwendig ist.“ Die Idee von geteiltem Wissen und geteilter Erfahrung hat dazu beigetragen, extreme Locals und Bergenthusiasten, Athleten und Profis aus aller Welt zusammenzubringen.

Die Leute prahlen nicht mehr mit einer krassen Line, sondern teilen die Erfahrung mit ihrer Clique, ihren Kollegen und neu gefundenen Freunden – egal ob diese das gleiche Level an Erfahrungen haben oder nicht. Aus der kollektiven Liebe zu den Bergen ist eine Atmosphäre entstanden, welche die Leute verbindet.
„Die Gefahr ist immer präsent“, sagt Stian, „aber entscheidend ist, wie wir mit damit umgehen.“ Er hat sich intensiv mit dem Risikomanagement beschäftigt und widmet sich mit Leidenschaft der Aufgabe, sein Wissen über die Gefahren in den Bergen an andere Leute weiterzugeben. Chamonix ist ein ganz besonderer Ort, voller verschrobener Charaktere und einem tief verwurzelten Respekt vor den Bergen. An dieser Szene können heute alle teilhaben und sie für die Zukunft formen. Und eigentlich ist es gar nicht so kompliziert: Es geht einfach darum, skizufahren, zu klettern und an einem der grandiosesten und spektakulärsten Plätze unseres Planeten unterwegs zu sein. Und es ist wunderbar zu sehen, dass Erfahrungen miteinander geteilt werden.

Die Arc’teryx Alpine Academy findet vom 4.-7. Juli 2019 wieder in Chamonix-Mont-Blanc statt.