CHASING POWDER, AND PURPOSE

Das Tourengehen im Backcountry, vor allem mit Freundinnen wie der Skifahrerin Tatum Monod, hat der Snowboarderin Spencer O’Brien eine komplett neue Seite ihres Sports – und ihrer selbst – gezeigt.   

FOTOS: JESSY BRAIDWOOD | TEXT: JEN ATOR 

Es ist ein knackig-kalter und sonniger Wintertag. Die Arc’teryx Athletinnen Spencer O’Brien und Tatum Monod machen eine Tour in der Tantalus Range bei Whistler (Kanada). Begleitet von einer Bergführerin hoffen die Frauen darauf, einige große Linien zu fahren. Aber der Berg hat andere Pläne.  

„Manchmal bricht man mit einem bestimmten Ziel auf, aber dann sagen die Berge ‚nein’“, erklärt Spencer. „Das ist kein Grund, sich zu ärgern. Du musst lernen, dein Ego beiseitezuschieben und hinzuhören.“ 

Das ist der Deal, den man eingeht, wenn man die präparierten Pisten hinter sich lässt und ins Gelände geht. An manchen Tagen schuftet man sich Stunden lang nach oben, um später nur einige wenige coole Turns zu machen. An anderen Tagen hat man sogar noch weniger Glück. Die Geduld und die Weitsicht zu entwickeln, sich von dieser Realität nicht unterkriegen zu lassen, ist für manche nicht selbstverständlich.  

Bei Spencer war das auch nicht der Fall. 

„Es ist ein großes Erwachen, wenn du aus dem Skigebiet oder dem Wettkampfsport ins Backcountry gehst und feststellst, wie wenig du dem eigentlichen Sport nachgehen kannst“, erklärt sie. „Ein großer Teil des Tages wird durch das Hinkommen, Vorbereiten und Beurteilen der Bedingungen bestimmt. Für mich war es sehr hart zu lernen, langsamer zu machen und flexibel zu sein. Denn das hat nichts damit zu tun, wie ich bis dahin Snowboard gefahren bin … überhaupt nicht.“  

Peak Pursuits 

Spencer folge den Spuren ihrer großen Schwester und lernte mit elf Jahren Snowboardfahren. Nur fünf Jahre später wurde sie Profi. Mit ihrem furchtlosen Appetit auf große Features und noch größere Airs gilt die zweifache Weltmeisterin, zweifache Olympiateilnehmerin und X-Games-Goldmedaillengewinnerin als eine der progressivsten Slopestyle-Snowboarderinnen ihrer Zeit.  

Fast 36 Jahre lang war Spencers Sicht auf das Snowboarden von der intensiven, rasanten Blase des Profisports geprägt.  Sie war sehr zielstrebig und zugegebenermaßen egoistisch und hat jedes Detail vom Aufwachen bis zum Einschlafen genauestens geplant.  Ihr Vertrauen kam durch zahllose Wiederholungen. Ihre Kompetenz wuchs von Saison zu Saison.  

Als sie ihre Wettkampfkarriere beendete, kündigte sie eine Wende an:  Sie wollte ihre Talente im Backcountry ausprobieren. Für Laien mag dieser Übergang nicht allzu drastisch klingen. Schließlich war sie Profi-Snowboarderin. Wie anders würde das Freeriden im Backcountry schon sein? 

„Nichts verpasst mir so einen Tritt in den Hintern wie das Tourengehen“, lacht Spencer. „Das ist besonders ernüchternd, wenn man sich selbst für eine ziemlich starke Athletin hält. Es gab Momente, in denen ich so krass in die Schranken gewiesen wurde.“  

„Nichts verpasst mir so einen Tritt in den Hintern wie das Tourengehen … es gab Momente, in denen ich so krass in die Schranken gewiesen wurde.“   

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Während die Runs in den Wettbewerben geplant und vorhersehbar sind, sind die Berge … alles andere als das. Sogar klassische und bekannte Spots im Gelände, an die Spencer oft geht, sind niemals gleich. Manchmal ist die Schneedecke anders; Manchmal bildet sie sich gar nicht und man kann nicht mal abfahren. Du weißt nie wirklich, was dich erwartet, bis du vor Ort bist.  

„Das ist etwas, mit dem ich ziemlich zu kämpfen hatte. Im Wettkampf gibt es so viele Wiederholungen und im Backcountry überhaupt nicht“, sagt sie. „Ich zögere immer noch sehr oft – vor allem beim Fahren von Lines. Es inspiriert mich total, Leuten wie Tatum zuzusehen, die eine Linie sehen und sie dann runterfliegen, als wären sie sie schon acht Mal gefahren.“  

Es ist nicht so, als wäre Tatum ein Wunderkind. Okay, vielleicht ist sie eins. Sie war die erste Frau, die einen doppelten Backflip auf Skiern im Backcountry stand. Zudem hat sie mehr als ein Jahrzehnt damit verbracht, die steilsten Lines und die größten Hänge mit ihrem spielerischen und doch kraftvollen Stil zu fahren. Mit ihren 32 Jahren hat sich die professionelle Freestyle-Skifahrerin ihren Platz unter den ganz Großen bereits gesichert. 

Das Zentrale ist aber, dass Tatum durch ihre Zeit in den Bergen gelernt hat, sich anzupassen. „Da sind so viele Dinge, die wir machen, bevor wir das erste Mal oben an einer Linie stehen“, erklärt sie. „Ich persönlich, beschäftige mich eingehend mit dem Hang. Während dem Aufstieg schaue ich mir die ganze Zeit die Linie an und visualisiere die Abfahrt so oft wie möglich. Wenn ich oben bin, kenne ich den Hang und seine Landmarks. Du kannst dich entspannen und Spaß haben, weil du dich gut vorbereitet hat. Dann fahre ich am besten: Wenn ich denke, ich werde mit so einem Flow darunterdüsen, weil ich diesen Abschnitt so gut kenne wie die Rückseite meiner Hand. 

Diese Sicht hat Spencer geholfen, das langsamere Tempo beim Skitouren zu schätzen. Sie nutzt die Zeit, um den Berg – und ihre Partner:innen – so gut wie möglich zu studieren. „So habe ich gelernt“, sagt sie. „Die Berge mit den Augen anderer Menschen zu sehen, sie fragen zu können, wie sie die Berge sehen und einfach wieder eine Schülerin zu sein. Das war so wichtig!“ 

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Gewinnen, neu gedacht 

Um Hilfe zu bitten, verletzlich zu sein – das ist es, was es braucht, um zu wachsen und zu lernen. Das macht es aber oft nicht leicht für ehrgeizige, leistungsorientierte Menschen. Ob von Natur aus oder anerzogen, es gibt eine bestimmte Energie und eine anerkannte Sturheit, die sich bei Athleten und Athletinnen ansammelt, die den sprichwörtlichen Gipfel ihres Sports erreicht haben.  

Es ist etwas, das diese beiden Frauen teilen. „Spence und ich haben ähnliche Persönlichkeiten. Wir wollen die Dinge bestmöglich machen und werden sauer, wenn wir es nicht schaffen“, erzählt Tatum.  

„Das habe ich einige Male bei dir beobachtet, Spence“, sagt sie zu ihrer Freundin. „Du springst und landest nicht und das Feuer, die Rage in dir wächst. Ich bin da genauso. Früher war ich so frustriert, wenn ich nicht mithalten konnte und es war wirklich schwer, das nicht zu zeigen. 

Es ist großartig, wenn man sich dieses Feuer zunutze zu machen; wenn man in der Lage ist, diese Energie anzuzapfen, kann man als Sportler:in wachsen. Tatum hat aber auch beobachtet, dass man sich verbrennt, wenn man dieses Feuer ignoriert und nicht im Griff hat.  

„Was bei meinen inneren Selbstgesprächen abgeht, würde ich meinem größten Feind nicht an den Kopf werfen“, erinnert sie sich. „So habe ich mich früher selbst angetrieben. Ich musste wirklich daran arbeiten, diese toxischen Gedanken zu überwinden. Ich hab dieses Feuer immer noch. Aber als ich lernte, mehr Positivität hineinzubringen, nahm das den Druck und eröffnete mir eine neue Freiheit beim Skifahren.“  

„Das war die ständige Aufgabe in meiner sportlichen Laufbahn: zu lernen, wie man diesen Teil von sich selbst kanalisiert, der sehr ehrgeizig und aggressiv ist“, gibt Spencer zu. „Als Leistungssportlerin war ich sehr strukturiert und starr. Genauso waren meine inneren Dialoge. Ich dachte, ich brauche diesen Druck, um Leistung abrufen zu können. Ich habe mich vorher, währenddessen und danach selbst fertiggemacht, wenn ich nicht perfekt war.“ 

Das sei nachvollziehbar. Wenn man eine Leidenschaft zum Beruf mache, dann gäbe es einen Druck, der tief aus dem Inneren hochkomme, meint Tatum. Deshalb sei es so wichtig, seine Ziele wirklich zu kennen. „Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, dass ich unterwegs bin, um Spaß zu haben und es gar keinen Druck von außen gibt. Letztlich ist es unser Ziel, Menschen zu inspirieren. Ich möchte, dass die Leute mich sehen und denken, ‚das sieht nach richtig viel Spaß aus’.“ 

quote-left„Als Leistungssportlerin war ich sehr strukturiert und starr … Ich habe mich vorher, währenddessen und danach selbst fertiggemacht, wenn ich nicht perfekt war.“  quote-right

Nach einem Leben auf der Jagd nach Medaillen kann es für eine:n Profisportler:in beunruhigend sein, wenn der Drang, sich zu messen, fehlt. Wenn du „nur zum Spaß“ da draußen bist. Aber Spencer wird langsam klar, dass das in ihrem Fall kein Zeichen von Schwäche ist. Es ist Wachstum.  

„Die Olympischen Spiele waren Futter fürs Ego. Du fühlst dich wirklich groß, wenn du teilnimmst und gut bist“, gibt sie zu. „Ich blicke mit Dankbarkeit und Liebe auf diesen Teil meiner Karriere zurück. Es ist aber auch schön, das loszulassen und diese großartigen Gefühle von Erfüllung und Freude auf eine andere Art zu erleben.“   

Vor fünf Jahren hätten Tage wie dieser – schlechte Schneeverhältnisse, keine großen Tricks oder geniale Abfahrten – sich wie eine große Enttäuschung angefühlt. Aber Spencer sieht die Freude, mit der Tatum in die Berge geht und darin erkennt sie eine ganz neue Linie für sich selbst. Eine, die nicht weniger intensiv und ehrgeizig ist, aber ohne die extremen Höhen und Tiefen auskommt. Eine, die von ehrlicher Motivation und Dankbarkeit gefüttert wird und nicht von Druck und Erwartungen. Eine, die nicht nach Perfektion strebt, sondern sich mit Neugierde einlässt.  

„Ich habe die Berge immer geliebt, aber während meiner Wettkampfzeit habe ich sie weniger geschätzt“, sagt Spencer. „Ich könnte sie mein restliches Leben studieren und da wäre immer noch so viel mehr, was ich lernen könnte. Diese Beziehung zu den Bergen und zu den Menschen, die das auch so empfinden, ist das größte Geschenk für mich.“ 

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