Das ist mein wahres Wesen

Ein Liebesbrief an Argentinien
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Matt Spohn im Gespräch mit Paul Mcsorley

Du kannst sagen, was du willst. Die Natur hat eine transformative Kraft. Beweg dich mit Ruhe und Bedacht und du wirst ganz andere Dinge wahrnehmen. Es macht etwas mit deinem Herz und deiner Seele. „Die Schönheit des Kletterns ist, dass du die Möglichkeit hast, dich selbst für die Erfahrung zu öffnen und dass du die Natur erleben kannst“, sagt Paul Mcsorley. „Da schlägt mein Herz höher.“

quote-leftSei offen für die Erfahrung und lass dich auf das Naturerlebnis ein. quote-right

Kehre immer wieder an den gleichen Ort zurück und er wird dir vertraut. Du verstehst die Besonderheiten der Umgebung. Du kennst die klimatischen Bedingungen. Du baust Freundschaften auf. Pauls Beziehung mit Argentinien geht tief. Er reist seit 2001 zu den Bergen, Felsnadeln und Granitparadiesen der Region. In diesem Jahr wollen wir zu den mit gelben Flechten bewachsenen Felsen, perfekten Rissen und Pocketwalls von Los Arenales und The Frey. Los Arenales wurde von Pauls langjährigem Freund Nacho Elorza eingerichtet und bietet Routen in allen Schwierigkeitsgraden und Kletterstilen. „Der Granit ist gut und sauber. Du kannst einfach irgendwo dein Seil hinwerfen, eine Linie aussuchen und loslegen“, sagt er. „Das ist Fels vom Feinsten.“

quote-leftDer Granit ist gut und sauber. Du kannst einfach irgendwo dein Seil hinwerfen, eine Linie aussuchen und loslegen.quote-right

In Pauls Stimme schwingt Leidenschaft mit. Er hat viele persönliche Erfahrungen in den Bergen gemacht. Er hat feste Freundschaften geschlossen – solche, die da weitergehen, wo man ein oder zwei Jahre zuvor aufgehört hat. „Ich habe Nacho vor Jahren auf einem Gipfel in Patagonien kennengelernt“, sagt Paul. Wenn du einen guten Kletterpartner triffst, macht es direkt Klick. Da ist einfach Harmonie und sie bringen dich weiter. Am meisten ist da ein unausgesprochenes Verständnis dafür, dass man die gleichen Werte teilt. „Du findest deine Leute und bleibst ihnen treu“, sagt Paul. Seine sonnengegerbten Augen leuchten, wenn er über Gemeinschaft und Klettern spricht. Er gestikuliert mit seinen Händen, abgenutzte Werkzeuge, die Geschichten von unzähligen Routen und Gipfeln erzählen. Er betont, dass wir lebendiger werden, wenn wir uns mit unserer Umgebung verbinden.

Das Wasser tost und rauscht über ihre Waden, als sie auf dem Weg zum Boulderspot den Fluss in der Nähe des Camps überqueren. Wenn man nicht aufpasst, verliert man auf dem unebenen Untergrund das Gleichgewicht. Die Vorfreude aufs Klettern beginnt schon lange bevor es in die Vertikale geht. Jeder Moment auf dem Weg ist ein Teil der Erfahrung, die uns prägt. Das Wasser steigt. Paul und seine Kletterpartnerin Martine Langelier bahnen sich mit Nacho ihren Weg. Unter der Oberfläche schaben uralte Steine, während sie ins Nirgendwo wandern. Flussabwärts sammelt sich das Wasser in einem ruhigen Pool, in dem sich die Berge spiegeln. An einer Stelle bricht das goldene Licht bis auf den Grund. „Wir müssen unsere Augen aufmachen“, sagt Paul. „Lasst uns langsamer gehen und wahrnehmen und schätzen, was direkt vor uns ist.“

Die Freude, die das Klettern mit sich bringt, ist überall. Das gerät aber leicht in Vergessenheit. Das Risiko ist, dass man Klettern zu eingeschränkt sieht – als Schwierigkeitsgrad oder bestimmte Route oder Social-Media-Post. So scheint es oftmals, dass sogar die größten Berge auf eine Fläche aus Pixeln reduziert werden. Es scheint, als wären wir zu einer Welt der Entkoppelten geworden. Als ob uns die Geräte, die uns näher zusammenbringen sollten, uns von dem Bedeutsamsten entfernt haben:  Momenten. Ständig aus ihrer Verankerung gerissen, verschwinden Momente einfach, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, sie wahrzunehmen und zu schätzen. Klettern ist eine hervorragende Methode, das Leben zu erfahren und befriedigt unseren Hunger nach Verbundenheit – mit der Zeit, mit Menschen, mit der Natur. Wir sollten zu dieser Art von Intimität und den Erfahrungen, die beim Klettern entstehen, zurückzukehren. Wir müssen dringend in das Ritual der Entschleunigung eintauchen. „Genieße, was direkt vor dir ist“, sagt Paul immer wieder. Die Strukturen. Die Geräusche. Die Gerüche. Die Freundschaften.

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„Du musst nicht unbedingt ein Projekt von deiner Tickliste abhaken oder einen Schwierigkeitsgrad erreichen, um das Klettern zu genießen.“ Diese Dinge haben eine Bedeutung, aber sie sind nicht die Bedeutung. In Los Arenales kannst du einfach einen Stein in irgendeine Richtung werfen  und dir so eine Kletterroute suchen. Ein Abenteuer, das nur auf dich wartet.

Über der kleinen Steinhütte, in der Paul und Martine biwakieren, wirbelt der Wind die Wolken auf und hinterlässt eine grenzenlose Weite, die einen über den nächsten Bergrücken hinausträgt, wo große Träume warten. Wenn man nicht auf Schwierigkeitsgrade aus ist, kann das Klettern einen überall hinführen. Kein Empfang. Kein sinnloses Scrollen oder E-Mail-Abrufen oder Lesen über das Ende der Welt. Hier gibt es nur Paul und Martine. Die Boulder, die perfekten Risse und die riesigen Granitwände. In jeder Richtung Abgeschiedenheit – das Rezept für Verbundenheit. Die Gespräche in der Hütte dauern bis spät in die Nacht. Vieles, was gesagt wird, dreht sich um das, was auf sie wartet.

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Hoch und höher und höher. Schichten über Schichten aus schimmerndem Gold und rotem Granit. Den ganzen Nachmittag klettern Paul und Martine durch riesige Risse, bewegen sich über glatten Granit und greifen nach alten Lavaadern. Ein Dyke erstreckt sich über acht Seillängen. Da heißt es wie verrücktStemmen und Stützen.  Die glänzende Wand einer anderen Route fängt die Magie der späten Sonnenstrahlen ein. „Sorgenfalten: Fehl am Platz“, lacht Paul. „Es ist einfach ein wunderschönes, bereicherndes Erlebnis.“

Pauls Pilgerreisen in die Berge dieser Welt sind von Weiterentwicklung geprägt, nicht von Perfektionismus. Denn er will jeden Aspekt von jeder Klettertour, jedem Sturz und jeder Begehung bewusst erleben. Die Freundschaften, schmerzende Körperteile, aufgerissenen Fingerspitzen, der Drang, etwas Neues zu entdecken. Sogar die Tragödien. Klettern ist wie ein Symbol für die Geschichte des Lebens. Magisch aus der Ferne, beängstigend aus der Nähe. Die Berge und Wände von Los Arenales und The Frey zeigen, dass Freiheit darin besteht, zu fallen. Wieder und wieder. So lernen wir Stück für Stück, wer wir sind und wo wir stehen. Wie wir mit Menschen in Kontakt treten und Freundschaften aufbauen, die ein Leben lang halten und in Erinnerung bleiben. Dass wir den langen Weg der Weiterentwicklung und des persönlichen Einsatzes verstehen und Schritt für Schritt vorankommen. „Das Wissen, das ich mir bei jeder Reise nach Argentinien aneignen kann, entsteht durch aufmerksames Zuhören und Lernen“, sagt er, „nicht durch das Abhaken eines Projekts oder eines Schwierigkeitsgrads oder durch ein überarbeitetes Foto auf Instagram.“ Zu lernen, gleichzeitig an Vergangenem festzuhalten und in das Überraschende, Gewöhnliche und Unvorstellbare weiterzugehen ist eine Lebensweise.

quote-leftEs ist einfach ein wunderschönes, bereicherndes Erlebnis – Sorgenfalten: Fehl am Platzquote-right
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Irgendwo auf halber Höhe des verzweigten Risssystems baut Paul einen Stand. „Nachkommen“, ruft er Martine zu. Sie zieht sich ihre Schuhe an und beginnt mit ihrer Reise nach oben, chalkt immer wieder nach und hält inne, um die Umgebung zu genießen. „Es ist die Schönheit und der Zauber, der mich bei Klettern fasziniert“, sagt sie später. „Die Freundschaften.“ Gemeinsam inmitten der Felsen klettern sie weiter und verschwinden aus der Sichtweite.

Später erzählten bei einem Bier über ihre Erfahrungen. Ihr Lachen schallt durch das Tal. „Es gibt keine bessere Art, das Fest des Lebens zu feiern, als mit Freunden und Freundinnen in den Bergen“, sagt Paul. Einige andere gesellen sich dazu. Freunde, die da sein werden, wenn Paul wiederkommt.