Text: Josh Barringer
Fotos: Angela Percival
Bei jedem neuen Abenteuer und Ort, die ich erlebe versuche ich immer ein Wort zu finden, mit dem ich meine Erfahrungen beschreiben kann. Ein Wort kann genauso wie ein Foto eine ganze Geschichte erzählen. Als unser Flugzeug Bastia ansteuerte, schaute ich auf die gewaltige Küstenlinie der Insel und fragte mich, wie die kommende Woche auf Korsika wohl werden würde.

Das Erste, was bei der Ankunft auf Korsika auffällt, ist eine allumfassende Schönheit. Das Auge kann sich nicht entscheiden, wo es zuerst hinschauen soll. In einer Richtung säumt das klare, türkisfarbene Wasser sandige Buchten und alte Festungen, die an der Küste behutsam platziert wurden. In der anderen Richtung ragen Granittürme weit ins Landesinnere. Jeder Atemzug bläst die Lunge mit dem einzigartigen Aroma der Macchia auf. Dieser Duft ist so unverkennbar wild und aromatisch. Er war der Wegweiser für Napoleon Bonaparte, als er in seine Heimat zurückgekehrt ist. Als Nächstes erinnerst du dich, dass du dich auf einer Mittelmeerinsel befindest und die Uhren hier anders ticken. Alles und jeder wirkt hier stolzer und entspannter, als auf dem „Kontinent“, wie das französische Festland liebevoll genannt wird.

Die Zeit scheint hier langsamer und irgendwie gereifter zu sein. Im Laufe der Jahrhunderte der italienischen und französischen Herrschaft hat Korsika eine eigene Kultur und Küche entwickelt. Die Insel ist voll von bekannten Gerichten mit einer komplett korsischen Variante. In den 1500er Jahren, ein paar Hundert Jahre bevor die jahrhundertelange italienische Herrschaft endete, mussten die Grundbesitzer jedes Jahr vier Bäume pflanzen – Oliven, Kastanien, Feigen und Maulbeeren. Die Kastanie wurde zu einem integralen Bestandteil der Wirtschaft und der Ernährung. Das Wildschwein frisst sie, woraus die markante Figatellu-Wurst produziert wird. Kastanienmehl wurde für Brot, Gebäck und Nudeln verwendet und ist heute Bestandteil des beliebtesten Bieres Korsikas, dem Pietra.

Mit viel Engagement und der Weitergabe von Traditionen hat sich die typisch-korsische Geschmackspalette entwickelt. Der Charakter dieser widerstandsfähigen und einfallsreichen Menschen zeigt sich am deutlichsten im Brocciu-Käse, der in zahlreichen Rezepten verwendet wird. Darunter Fiadone, ein Käsekuchen, in dem auch Kastanienmehl verwendet wird. Brocciu ähnelt Ricotta, wird aber aus Schafsmilch hergestellt. Im Gegensatz zu Ricotta wird Broccui nicht aus Quark, sondern aus Molke hergestellt. Hirten, die keinen Tropfen ihrer wertvollen Milch verschwenden wollten, entwickelten eine Methode zur Verarbeitung der Molke. Ein Rezept, das über Generationen weitergegeben wurde.
Der Name Korsika leitet sich von der griechischen Bezeichnung für die Sirenen ab. Ein mehr als passender Name für einen Ort mit einer alten Tradition vielstimmiger Gesänge, schimmernder Küsten und einer riesigen und vielfältigen Bergwildnis. Die kurvigen Straßen verbinden die an den Hängen liegenden Dörfer. Durch die Mitte dieser bemerkenswerten Insel führt der GR20, ein Härtetest für alle, die sich von seinem hypnotischen Gesang angezogen fühlen.
Der GR20 (GR = Grande Randonnée) ist einer von vielen Weitwanderwegen in Europa. Er gilt als der Schwierigste. Eine scheinbar unbestrittene Behauptung, die den Weg und die Landschaft noch mystischer erscheinen lässt.

Das Abenteuer auf der Nord-Süd-Route des GR20 beginnt mit dem Geruch des Meeres und führt schnell durch Pinienwälder und Gumpen mit klarem grünem Wasser zu Kraxeleien über Schiefer und Schotter, hinauf bis zum ersten Blick auf den Monte Cintu, dem höchsten Gipfel der Insel. Der Weg ist geradezu roh, komplett naturbelassen. Die Auf- und Abstiege sind so aggressiv wie die Flora. Das Gelände ist so unglaublich herausfordernd, dass es dir keine Zeit lässt oder besser gesagt, einen Stopp erzwingt, um die wunderschöne Aussicht und die Küste weit in der Ferne zu bewundern. Das lädt zum Innehalten ein. Lass den Geist ruhen, bevor du den nächsten Abschnitt angehst. Aber denk dran: „Qui n’avance pas, recule.“ (Wer nicht vorwärtsgeht, geht rückwärts.)

Unterhalb des Monte Cintu befinden sich die Gletscherseen des Vallée de la Restonica. Momente der Ruhe. Hier schlängeln sich wunderschöne Pfade unter der sengenden Hitze entlang der Sümpfe, die von wilden Pferden bevölkert sind. Doch die Ruhe ist nur von kurzer Dauer. Als Nächstes warten steile Kraxeleien, die das Tempo erheblich verlangsamen. An einigen Stellen ist Trittsicherheit gefragt. Jeder Schritt muss sorgfältig ausgeführt werden, da ein einziger Fehltritt böse enden kann.

Am Rande der korsischen Berge liegen malerische Dörfer. Die ruhigen Straßen sind ein Zeichen dafür, dass sich die Dorfbewohner im Café zum Kartenspielen versammelt haben. Zeit zum Essen und um Beziehungen zu pflegen. In diesen Dörfern kann man die antike Zeit Korsikas erleben. Durch die prähistorischen Berge zu wandern, offenbart jedoch das Herz der Insel.
Nach der Überquerung der spektakulär schwierigen Aiguilles de Bavella, kann man in der nahe gelegene, glitzernde Küstenstadt Porto Vecchio ein regeneratives Bad im Mittelmeer genießen. Ein herrlicher Blick, um über die Mühen des GR20 nachzudenken. Es gibt viele Worte, mit denen ich diesen Ort beschreiben könnte. Klarheit. Rau. Köstlich. Ich habe mich aber ganz klar für die „Zeit“ entschieden.
